Kinder im Viertel ...
von Roberto Graf

Sa, 22. Jan. 2011
Aachener Zeitung - Stadt / Lokales / Seite 17
„Kinder im Viertel dürfen nicht die Dummen sein“
Im Samstagsinterview: Petra Savelsbergh kümmert sich mit ihrem Förderverein um die Jugend im Stadtteil Rothe Erde. Düppelstraße 2011 Schwerpunkt.
Von Hans-Peter Leisten
Aachen. Sie
spricht von Sinngebung und Freude am Engagement.
Petra
Savelsbergh wählt diese Worte bewusst,
als sie von ihrer Arbeit für den „Verein zur
Förderung der Kinder und Jugendlichen im Stadtteil
Aachen, Rothe Erde“ erzählt. Zunächst
wollte sie ein wenig mithelfen, seit über einem
Jahr ist sie jetzt Vorsitzende des Vereins, der sich um
Kinder und Jugendliche kümmert, die nicht unbedingt
im Sonnenviertel Aachens groß werden. „Sie
haben die gleichen Chance verdient wie ihre
Altersgenossen in anderen Stadtteilen“, sagt sie.
Wie sie mithelfen will, diese Chancengleichheit ein
Stück zu realisieren, schildert sie im
AZ-Samstagsinterview.
Sie leben nicht in Rothe Erde,
arbeiten dort nicht. Eigentlich könnte Ihnen
der Stadtteil doch egal sein? Savelsbergh:
Könnte. Aber ich bin in normalen Verhältnissen
groß geworden und habe bislang im Leben Glück
gehabt. Und mein Mann und ich wollen einfach etwas
zurückgeben.
Und wie sind Sie im Stadtteil
Rothe Erde gelandet? Savelsbergh:
Mein Mann ist im Kiwanis-Club engagiert, und über
diese Schiene haben wir Uschi Brammertz – damals
Vorsitzende des Fördervereins Rothe Erde –
kennen gelernt. Als ich mir dann die Situation vieler
Kinder und Jugendlicher vor Ort angesehen habe, hatte
ich direkt einen Kloß im Hals: Oft gab es in den
Familien keine Waschmaschine und keinen Herd, oft hatten
die Kinder richtig Hunger. Wir sind dann zunächst
Mitglieder im Förderverein geworden, haben das
Frühstücksprojekt unterstützt und mein
Mann hat in der Kita Barbarastraße als Nikolaus
die Kinder überrascht. Ein sanfter Einstieg.
Was hat sie zur Übernahme
des Vorsitzes veranlasst? Savelsbergh:
Meine Vorgängerin hatte verschiedene Gründe,
das Amt abzugeben. Wir haben dann in der Familie
beraten, denn die Familie sollte ein Engagement
mittragen. Meine Tochter hat gesagt: „Mama, Du
kannst das.“ Im Dezember 2009 bin ich dann
für vier Jahre gewählt worden. Ich bin davon
überzeugt, dass man Dinge im Unterbewusstsein
„bestellen“ kann. Der Förderverein ist
quasi zu uns gekommen.
Haben Sie den Eindruck, dass man
vom Stadtteilerneuerungsprogramm Aachen-Ost
nachhaltig etwas im Jugendbereich merkt? Savelsbergh: Es
reicht nicht, einen Stadtteil nur durch Programme zu
verschönern. Man muss den Menschen helfen, dann
geht es auch einem Stadtteil gut. Ich sehe aber ehrlich
gesagt wenig Veränderung. Man sollte lieber die
Spielplätze sauber halten, als Fassaden mit Bildern
zu verschönern. Wir haben eine
Säuberungsaktion initiiert. Hier ging es nicht nur
darum, Müll zu entsorgen, sondern auch den Blick
fürs eigene Viertel zu schärfen.
Das Viertel hat aber
offensichtlich auch ein Image-Problem? Savelsbergh:
Warum eigentlich? Rothe-Erde hatte eine lange Tradition
als Viertel mit vielen Arbeitsplätzen. Die
Industrie ist aber weitgehend weggebrochen. Das hat zur
Folge, dass viele Sozialbauten heruntergekommen sind.
Hier könnte die Stadt eine Menge tun. Aber vom
schönen Eilendorf trennt Rothe Erde nur eine
Kreuzung. Ich verstehe die Scheu nicht, hier etwas zu
tun. Zum Glück gibt es Menschen wie den
Geschäftsführer der Stiftung Marienhospital,
Rolf-Leonhard Haugrund, und Honorarkonsul Hans-Josef
Thouet, die sich engagieren.
Wie entwickelt sich der Förderverein? Savelsbergh:
Als ich den Verein übernommen habe, hatte er elf
Mitglieder, heute nach gut einem Jahr sind es rund 70.
Inzwischen brauchen wir zur korrekten
Vereinsführung einen Steuerberater. Aber der kostet
auch wieder Geld, das dann bei der sozialen Arbeit
fehlt. Vielleicht findet sich ja jemand, der uns hilft.
Wo kann Ihr Verein
Unterstützung gebrauchen? Savelsbergh:
Mir kommt es darauf an, die Menschen für unsere
Idee zu begeistern: Die Kinder müssen uns etwas
wert sein. Viele Menschen rufen inzwischen an und
fragen, was sie tun können. Manche wollen anonym
bleiben und nur etwas spenden. Man kann bei unseren
Projekten aktiv und passiv mitarbeiten. Andere wollen
konkret mitarbeiten. Übrigens: Eine
Jahresmitgliedschaft kostet 12 Euro. . .
Welche Projekte werden konkret umgesetzt? Savelsbergh:
Schon lange gibt es das Frühstücksprojekt in
der Barbarastraße. Hier treffen sich Frauen und
bereiten für unversorgte Kinder in den
Einrichtungen an der Barbarastraße ein
Frühstück zu. In Kindertagesstätten
werden Musikprojekte umgesetzt. Musik schult
bekanntermaßen auch die mathematischen
Fähigkeiten. Wir wollen die Kinder bei der Bildung
an die Hand nehmen, ihnen zum Beispiel auch bei der
Sprachbildung eine Alternative bieten.
Haben Sie weitere Beispiele? Savelsbergh:
Ein weiterer Schwerpunkt soll die
Bewegungsförderung sein. Viele Kinder in diesem
Stadtteil sind bewegungsarm, haben Probleme, einen
Hügel hinaufzulaufen. Sie sitzen zu viel vor dem
Fernseher. Hier unterstützen wir einen
Bewegungspädagogen, der nicht von der
öffentlichen Hand bezahlt wird. Eine Alternative in
diesem Bereich wäre, das eigene Personal in den
Einrichtungen zu schulen – aber auch das kostet
Geld. Sportpatenschaften sind ideal, Sport ist für
unsere Kinder extrem wichtig. Aber bei genauerem
Hinsehen stellt man fest, dass es im Grunde hier im
Viertel nur den Sportverein BC Rhenania Rothe Erde gibt.
Das reicht vor allem für die Mädchen nicht. Es
fehlt zum Beispiel ein Tanz- und Turnangebot.
Kann man angesichts des hohen
Migrantenanteils Identifikation mit dem Viertel erzeugen? Savelsbergh:
Nehmen wir zum Beispiel unser
Frühstücksprojekt. Das ist zugleich ein
Integrationsprojekt. Die Frauen stammen aus vielen
verschiedenen Ländern, müssen aber, um sich zu
verständigen, Deutsch sprechen. Sie müssen
zudem eine qualifizierte Hygieneprüfung ablegen,
das macht sie ein bisschen
stolz.
Außerdem gibt es bei uns
einen Talente Bazar, in dem sich alle mit ihren
Fähigkeiten einbringen können. Menschen aus
Schwarzafrika genauso wie aus Russland. Hier werden
gemeinsam Handarbeiten ausgeführt. Es gibt die
Idee, Geschichten vorzulesen. Das alles fördert die
Sprachkenntnisse. Eltern und Mütter müssen mit
ins Boot genommen werden.
Wie fällt Ihr
persönliches Fazit nach gut einem Jahr Vorsitz aus? Savelsbergh:
Die Arbeit ist für mich ein Stück Sinngebung.
Ich bereue die Übernahme des Vorsitzes mit keiner
Faser und freue mich auf die – mindestens –
nächsten drei Jahre.
Gibt es einen Schwerpunkt
für Ihr Förderengagement im Jahr 2011? Savelsbergh:
Einen ganz konkreten – die
Düppelstraße. Auch hier hat mein Mann im
letzten Dezember in der Kita den Nikolaus gespielt. Die
Kinder haben so etwas zum ersten Mal erlebt, Sie
hätten mal die glänzenden Augen sehen sollen.
Aber das kann ja nicht alles sein. Das Personal ist
unheimlich engagiert, aber es fehlt massiv an
pädagogischem Material – letztlich also
wieder an Geld. Und dort kommt kein eigener
Förderverein zustande. Auch wenn die
Düppelstraße nicht zu Rothe Erde gehört,
wollen wir uns da engagieren. Es fehlt an Personal und Strukturen.
Und die Kinder sind wieder die Dummen? Savelsbergh:
Natürlich, auch wenn die Kinder alles andere als
dumm sind. Aber wie soll hier Bildung entstehen? Wissen
und Lernbereitschaft kann man spielerisch bereits
früh vermitteln – nicht erst in der Grundschule.